Sophias viertes Zimmer

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Eigentlich hatte sie für sich andere Krankheiten im Blick gehabt, wenn sie in mittleren Lebensjahren ans Altwerden dachte. Welche genau das waren, das weiß sie heute nicht mehr so genau, aber jedenfalls nicht solche, die sie derart in ihrem Aktionsradius einschränken, dass ihr die Meisen und Buntspechte vor ihrem Küchenbalkon zur willkommenen Teegesellschaft werden. Morgens Assam-Ceylon mit Kohlmeisen, Spechten und Amselgesang, nachmittags Darjeeling oder grüner Tee mit Blaumeisen, Rotkehlchen und Dompfaffen. Seit Kurzem besucht auch ein Eichelhäher Sophias Futterstelle.

Gezwitscher, Getschilpe, Gekrächze auf der alten Teppichstange und in den Kirschbaumzweigen. Der Balkon ist Sophias viertes Zimmer geworden.

Die gravierendste Veränderung im Alter ist, dass plötzlich die meisten Menschen jünger sind als man selbst, – und dass einem das auch bewusst ist. Es beeinflusst mehr und mehr die Kommunikation. Sophia kann in ihrem eigenen Leben zurückspulen, dorthin, wo sie so alt war wie ihr jeweiliger Gesprächspartner, manchmal hilft das bei Verständigungshürden. Schließlich ist es für Jüngere schwieriger, Jahrzehnte im eigenen Leben vorauszudenken. All das betrifft natürlich vorwiegend Gespräche, bei denen es nicht nur ums Wetter geht.

Apropos: Es regnet in Strömen. Die Wiese vor ihrem Balkon quitscht unter den Füßen. Dort möchte sie nächstes Wochenende ein kleines Geburtstagspicknick geben. Nur ein paar Kannen Tee auf den Tisch stellen und etwas Knabberkram. Nichts Großes. Die Einkäufe erledigt sie mit dem Fahrrad, bei jedem Wetter. Alternativlos.

Abwarten, Tee trinken. Heute Heidelbeertee mit Vanille und Hibiskusblüten.

Wer alle seine Einkäufe mit dem Fahrrad nach Hause bringen muss, weiß Tee zu schätzen. Das Wasser kommt aus der Leitung, braucht nicht mit dem Rad transportiert zu werden. Sie hat 14 verschiedene Sorten Tee im Küchenregal.

Die Eistees bereitet sie alle am Tag vor dem Picknick zu, stellt sie über Nacht in den Kühlschrank: Orangentee, Heidelbeertee, Minztee, grüner Tee. Am Picknicktag selbst braucht sie nur die Tees aufzugießen, die heiß serviert werden sollen. Drei Thermoskannen stehen bereit. Den Samstagvormittag braucht sie, um die Papierschmetterlinge und Maikäfer an die Bäume zu pinnen.

Als die Gäste kommen, ist eine bunte Invasion von Origami-Schmetterlingen im Garten gelandet. Das vierte Zimmer erweitert sich, dehnt sich auf die Rasenfläche vor ihrem Balkon aus. Die Kinder kneten, malen und plantschen im kleinen, aufblasbaren Wasserbassin. Das Eichhörnchen, das täglich mehrfach die Futterhäuschen der Vögel besucht und sich an den Sonnenblumenkernen satt frisst, gesellt sich zur Teestunde dazu und lässt sich von der menschlichen Gesellschaft gar nicht irritieren. Als die letzten Gäste sich verabschieden, ist mehrfach die Bemerkung gefallen, dass man so etwas öfter machen solle.

Sie denkt über einen Suppen-Brunch im Garten nach und beobachtet den Wetterbericht. Im Großen und Ganzen mal wieder ein Hamburger Sommer mit leuchtend grauen Wolken am Himmel, wenigen, schlecht vorhersagbaren Regenlücken und vielen unbekannten Variablen. Heute erstmal in den Buchladen.

Hallo, hier Hamburg oder so ähnlich heißt das Buch, oder hallo, Hamburg, hallo oder – na, jedenfalls nicht Bremen. Ein guter Buchhändler kann mit jedem Gestammel etwas anfangen und er greift tatsächlich stante pede den gewünschten Titel aus dem Regal. Als Geschenk verpacken? Ja, bitte. Auch das hat geklappt, bevor der nächste Hagelschauer mit Blitz und Donner einsetzt. Winter, Frühling, Regenzeit, Herbst und wieder Winter, das sind die Hamburger Jahreszeiten.

© Svende Merian – 2 –

Doch das Wetter ist nicht die einzige Herausforderung. Der Weg zwischen Wohnung und Garten dieses Mehrfamilienhauses durch den verwinkelten Keller, vorbei am Blechsarg, der dort seit Kurzem steht, ist ungemütlich und zeitraubend: alles Nötige gleich anfangs über die Balkonbrüstung in den Garten hinausreichen und dann hoffen, dass man nichts vergessen hat und möglichst nicht mehr in die Wohnung muss.

Zum Brunch kocht sie Linsensuppe, einen Topf für Vegetarier und einen Topf mit Wurststückchen. Zwei weitere Suppen, Salate, frisch aufgebackenes Brot und Dips kommen von den Nachbarn. Die Schnitzeljagd für die Kinder führt durch alle drei Gärten, in denen Briefumschläge mit Fragen nach Spielgeräten und Gartentieren versteckt sind. Wo entsteht im Garten neue Erde mit ganz vielen Regenwürmern? Wo haben die Vögel ihre Trinkstelle? Wo kann ein Seiltänzer üben? Am Schluss finden die Kinder einen Karton mit Schokoladenkeksen und Luftballons. Sonne den ganzen Tag. Der Brunch, der um 11 Uhr begonnen hatte, endet abends gegen 18 Uhr. Auf dem großen Gartentisch könnte man eigentlich auch mal Tuschkasten und Pinsel hinstellen. Nass-in-Nass-Technik ginge sogar bei unbeständigeren Wetterlagen.

Weinprobe. Gallo nero. Der schwarze Hahn war das Qualitätslogo der italienischen Chianti-Weine, die sie vor 30 Jahren in Florenz gekauft hat. Und in Buchholz. Auch ihr Weinhändler in der Nordheide kannte ihren Weingeschmack, schenkte ihr mehrfach knorrige Korkenzieher. Irgendwo müssten die noch sein. Sie hat seit mehr als 30 Jahren keine Weinflasche mehr geöffnet, höchstens mal am Glas geschnuppert, wenn jemand anders am Tisch Rotwein bestellt hatte.

Nach 30 Jahren Wein-Abstinenz drängeln sich die beiden Römergläser im Küchenregal wieder in ihr Blickfeld. Weinrömer mit grünem Stiel und Weinlaub-Dekor am Kelch. Probieren könnte man es ja mal. Sie kauft Roséwein und setzt sich abends mit einem Schoppen Wein auf den Balkon. Hm. Irgendwie fehlt ihr dabei das intensive Aroma, das nur Rotwein ausströmt. Sie lädt die Nachbarin am Gartentisch zum Rosé ein, ein lauer Sommerabend ohne Regen, auch die Mücken freuen sich über die Gesellschaft.

Die nächste Flasche, die sie kauft, wird ein Merlot sein. Lagrein und Vernatsch kennt sie nur aus den Südtiroler Kelterei-Videos und nach Bozen wird sie es nicht mehr schaffen, nicht in diesem Leben. Damit müssen die Südtiroler Rebsorten leben.

Nachbarn. Schrullen haben sie alle. Auskommen muss man auch mit allen. Die eine plädiert immer für spontan-flexibel: komm ich heut nicht, komm ich morgen. Die andere ist mit effektvollen Äußerungen schnell bei der Hand, egal welches Ergebnis dabei am Ende herauskommt. Hauptsache, sie hat ihrem Herzen Luft gemacht. Charaktere studieren und hinnehmen, wie sie sind. Distanz bewusst austarieren und Nachbarschaftshilfe pflegen.

Die Katzen hinterlassen verwesende Mäuse- und Vogelkadaver auf der Wiese. Ab mittags finden auf diesem proteinreichen Wespenfutter üppige Versammlungen statt. Zuständigkeiten für zeitnahes Entsorgen dieser Hinterlassenschaften bleiben ungeklärt und machen das vierte Zimmer ungemütlich.

„Hau ab, kleines Rotkehlchen! Ich kann dich hier nicht schützen. Ich bin hier nur die Rentnerin, – ich hab‘ hier nichts mehr zu sagen.“

Sie entfernt das Futterhaus neben der großen Pflanze, die neu dort steht und ein idealer Hinterhalt für heranschleichende Katzen ist. Eigentlich war mit den Nachbarn abgesprochen, dass nahe der Futterhäuser nur flache und kleine Blumen gepflanzt werden, hinter denen sich die Katzen nicht ungesehen anschleichen können. Das muss man offensichtlich mehrfach absprechen. Sisyphos.

Nachbarschaftssoziologie, das wäre ein interessanter Wissenschaftszweig, denkt sie.

© Svende Merian – 3 –

Sophia bestellt im Zoogeschäft eine Vogeltränke zum Aufhängen. Dann brauchen Rotkehlchen und Meisen nicht mehr aus der Bodenschale zu trinken. Manchmal baden Vögel auch in dieser Schale. Das geht an der hängenden Tränke natürlich nicht. Aber dann müssen die Rotkehlchen eben zum Baden und Duschen woanders hinfliegen.

Ombudsleute für Nachbarschaftskonflikte, das wäre doch mal eine Idee. Das könnte auch die Zahl der Prozesse reduzieren, die aufgrund von Interessenkonflikten zwischen Nachbarn geführt werden. Kommunikationsversuche hat Sophia in den vergangenen Jahren einige gestartet. Mit manchen Menschen kommt man trotz aller Bemühungen nicht in eine Feinkommunikation. Es bleibt bei wohlklingenden Phrasen und vollmundigen Lippenbekenntnissen. Absichtserklärungen, die sich erst Wochen oder Monate später als Schall und Rauch entpuppen. Reden ist dann nicht einmal mehr Silber. Das Missverständnispotential ist so reichhaltig wie frustrierend. Schweigen und Frechheiten runterschlucken ist dann zwar auch kein Gold, aber manchmal die einzige Eskalationsbremse.

Sie muss hier raus.

Die Einladung flatterte gerade zum richtigen Zeitpunkt in ihren Briefkasten. Seit einigen Wochen besucht Sophia nun ein Seminar über ehrenamtliches Engagement. In der Umweltbildung und im kulturellen Bereich ist so leicht kein Betätigungsfeld und erst recht keine dazu passende Dachorganisation zu finden. In ihrer Kirchengemeinde hatte sie schon vorher an verschiedenen Projekten mitgearbeitet. Pädagogischer Mittagstisch, Flüchtlingscafé und andere Treffen, auf denen sie zeitweise mit ihren Talenten wuchern konnte. Jetzt hat sie neue Ideen, die dort aber bislang nicht kompatibel sind. Oder nur in der Form, dass Sophia allein für ein Haus mit drei Eingangstüren Schlüsselgewalt und die Verantwortung hätte. So etwas würde sie lieber im „Tandem“ machen. Tandem-Projekte sind im „neuen Ehrenamt“ gar nichts Außergewöhnliches mehr.

„Neues Ehrenamt“ wird in dem Seminar dem „traditionellen Ehrenamt“ gegenübergestellt. Gesellschaftliche Veränderungen der letzten 50 Jahre werden betrachtet und damit auch die Veränderungen im bürgerschaftlichen Engagement. Nach den Seminarsitzungen bekommen sie zusammenfassende Papiere mit auf den Weg, in denen sie zu Hause alles noch einmal Revue passieren lassen können. Ihr gehen dabei jede Woche neue Lichter auf. Ein bisschen hatten sie mit ihr gefremdelt, die anderen Ehrenamtlichen. Fehlte ihr in diesem Umfeld etwas vom sogenannten Stallgeruch? Das kommt davon, wenn man nur zweimal im Jahr zum traditionellen Gottesdienst erscheint, und das noch nicht einmal zu Weihnachten und zu Ostern, sondern zu den Taizé-Andachten und wenn die Partnergemeinde aus Afrika auf Besuch hier ist.

Der richtige Stallgeruch, den hätte sie auf jeden Fall in Umweltschutz-Organisationen. Als Kind wollte sie Förster werden, aber dafür war sie zehn Jahre zu früh geboren. Ein Mädchen könne nicht Förster werden, hieß es in den frühen Sechzigerjahren. Ein paar Jahre Geduld, und Sophia hätte eine der ersten Försterinnen werden können. Aber da war ihre Berufswahl schon in eine andere Richtung mäandert.

Bäume ausreißen und stundenlang auf einem Hochsitz am Waldrand ausharren, das könnte sie heute nicht mehr. Aber es reicht immerhin noch für eine Rentnermitgliedschaft im Bund für Umwelt- und Naturschutz. Nur sind die meisten Treffen, zu denen sie eingeladen wird, abends oder in weit entlegenen Stadtteilen. Sie würde die Natur gerne tagsüber schützen. Und am liebsten hier in ihrem eigenen Stadtteil. Drei Stunden mit Bahn und Bus durch Hamburg zu fahren, um anderthalb Stunden an einem Naturschutztermin teilzunehmen, ist auch eine Stippvisite in Absurdistan.

Ihre Anregung, in ihrer Naturschutzorganisation eine Stadtteilgruppe zu gründen, zu der sie dann nicht drei Stunden Hin- und Rückfahrt hätte, scheint jetzt auf fruchtbaren Boden zu fallen. Kaum schlägt man es drei Jahre lang vor, schon machen sie es.

Allerdings soll sie nun für ihre Naturschützer die Raummiete erfragen, und das wiederum erweist sich dort, wo sie einen Raum ins Auge gefasst hatte, als schwieriges Unterfangen.

Also erst einmal das Seminar, das einen Überblick geben wird, was man außer Kaffee und Kuchen-Tafeln noch unterstützen kann. Kaffee und Kuchen-Treffen gehören zur Leitkultur und sind nicht vollständig vermeidbar, wenn man am sozialen Leben teilhaben möchte. Seit Sophia die 60 überschritten hat, wird sie aus allen Richtungen zu „Kaffee und Kuchen“ eingeladen, sicher nett gemeint. Ein Obstteller wäre ihr lieber, fällt aber unter „Special Interests“ und liegt nicht im Mainstream. Sophia sucht stets eher die Nischenangebote, und das schon seit einem halben Jahrhundert. Es wird ihr nichts anderes übrig bleiben, als selbst etwas zu gründen, was nicht so alternativlos Kuchen auf die Agenda setzt…

Ombudsleute für Nachbarschaftskonflikte, wo schlägt man das vor?

Eins, zwei, Ponyzei – Magellan Verlag

Wer hätte das gedacht, dass ausgerechnet die Hühner die geklaute Sparbüchse finden? Aber klar, die schnüffeln und scharren überall auf dem Ponyhof herum und graben dabei auch mal etwas tiefer. Und überhaupt: Dass die Lösung des Kriminalfalles in einer Erpressung wegen Schummeleien bei Mathearbeiten liegt, hätten die Ponypolizisten auch nicht vermutet.

Aber von vorn: Die Kinder wollen auf dem Blümchenhof Reiturlaub machen, aber die Spardose fürs Eis verschwindet. Kein Eis in den Sommerferien? Das geht nicht, also ermittelt die Ponyzei. Die einzelnen Pferde-Charaktere werden vorn und hinten im Buch mit Porträtzeichnungen vorgestellt. Im Laufe der Geschichte sieht man die tierischen Ermittler dann auch mit Polizeimützen auf dem Kopf.

Der überführte Dieb beichtet am Schluss, dass er bei den Mathearbeiten in der Schule regelmäßig bei einem Jungen abschreibt, der das wiederum verpetzen will, wenn der Abschreiber nicht die Spardose klaut, damit die Feriengruppe doofe Ferien ohne Eiscafé-Besuche hat.

Verworren, aber nicht unlogisch. Geholfen hätte uns beim Vorlesen, wenn es auch für den reichhaltigen menschlichen Personalstab eine Übersicht wie über die Pferde- und Hühner-Charaktere gegeben hätte. Selbst Hund und Katze werden mit Porträtzeichnungen vorgestellt. Und für Toni, das Pony, das bairisch spricht, gibt es eine Website für Übersetzungen ins Hochdeutsche:

www. magellanverlag.de

Suza Kolb, „Haferhorde – Eins, zwei, Ponyzei!“, Magellan Verlag, Bamberg 2018 12.95 €